Disruption, Digitalisierung, radikaler Change: Kaum ein Meeting, kaum ein Fachartikel, in dem derzeit nicht die Dringlichkeit tief greifenden Wandels bekräftigt wird. Doch Vorsicht: Die Risiken und Nebenwirkungen sind beträchtlich. Häufig verspricht eine Strategie der kleinen Schritte schnellere Erfolge bei viel geringerem Einsatz.
Unterschätze nie jemanden, der einen Schritt zurück macht. Er könnte Anlauf nehmen. (Redensart)
Die Gunst der Stunde nutzen
Tatsächlich bietet ein bedachtes, schrittweises und pragmatisches Vorgehen große unternehmerische Chancen – und zwar gerade dann, wenn Wettbewerber sich »von Grund auf neu erfinden« und sich mit Dingen wie »Future Search«, »Business Model Transformation« und »Kulturveränderung« befassen. Ergebnisse aus der Entrepreneurship-Forschung bestätigen dies: Erfolgreiche Unternehmer reduzieren bewusst ihr Risiko, indem sie auf bereits vorhandenen Stärken und Ressourcen aufbauen. Sie nutzen Gelegenheiten und Zufälle, machen kleine Schritte und bauen gezielt Kooperationen auf.
Bevor Sie über disruptive Geschäftsmodelle nachdenken, lohnt es sich, das nähere Umfeld Ihres Unternehmens ganz genau zu analysieren und auf bislang ungenutzte Geschäftschancen untersuchen. Drei Fragen erweisen sich als hilfreich:
Erste Frage: Wie können Sie Ihr bestehendes Leistungs- und Kundenportfolio ausdehnen?
Keine neue, aber eine wirkungsvolle Art und Weise, ertragreiches Neugeschäft zu entwickeln: Erweitern Sie Ihr bestehendes Portfolio um zusätzliche Produkte oder Dienstleistungen. Apple ist meisterhaft darin, ganze Produktwelten zu seinen Geräten anzubieten. Die schicken, teuren Accessoires – vom Kopfhörer zur modischen Schutzhülle fürs iPhone – generieren einen permanenten, sehr ansehnlichen Cashflow. Ebenfalls klassisch und bewährt: Verkaufen Sie nicht nur Produkte, sondern auch Services. So bieten mittlerweile viele Buchverlage ihre redaktionellen und gestalterischen Kompetenzen auch als Dienstleistung an und erstellen z.B. Unternehmensmagazine oder Corporate Books im Kundenauftrag.
Zweite Frage: Welches Problem möchte der Kunde mit dem Kauf Ihres Produkts lösen und was tut er alles noch, um zu einer Lösung zu kommen?
Versetzen Sie sich konsequent in die Lage des Kunden und beobachten Sie möglichst detailliert, was er konkret tut, um ein Problem zu lösen. Was tut er vor, während und nach dem Kauf, was unternimmt er vor, während und nach dem Konsum? Häufig finden sich in der »Reise des Kunden« (Customer Journey) viele Ansatzpunkte, das eigene Angebot zu erweitern und zu verbessern. Zwei Beispiele: Die Verlagsgruppe Haufe entwickelte sich von einem Anbieter von (gedruckten) Fachbüchern zu steuer- und betriebswirtschaftlichen Themen zu einem Rundum-Dienstleister für Office- und Management-Lösungen. Das Unternehmen bietet heute u.a. Buchhaltungs-, Controlling- und Personal-Software, Online-Informationsportale, ein umfangreiches Seminar- und Schulungsprogramm sowie Unternehmensberatung an – und ja: Fachbücher werden auch noch verkauft, machen aber nur noch einen Bruchteil des Unternehmensumsatzes aus. Ein zweites, alltägliches Beispiel: Auf dem Kundenportal der Deutschen Bahn kann man heute nicht nur Tickets für die Hin- und Rückfahrt kaufen, sondern auch das Hotel am Zielort (mit passendem Arrangement für die gewählte Reisedauer) und einen Mietwagen buchen.
Dritte Frage: Gibt es ungenutzte oder schlecht bewirtschaftete Teile Ihres Geschäftsfeldes? Wie können Sie diese besser ausnutzen?
Häufig lassen sich an den Rändern Ihres Geschäfts zusätzliche Umsätze generieren. Landwirte können Flächen mit schlechter Bodenqualität statt zum Ackerbau für die Energieproduktion nutzen, indem sie die Flächen an Betreiber von Photovoltaik- oder Windparkanlagen vermieten. Eindrücklich ist in dem Zusammenhang das Beispiel von Amazon: Um die immer größeren und komplexeren Datenströme des eigenen Geschäfts zu bewältigen, baute das Unternehmen seit dem Jahr 2000 eigene Server mit großer Kapazität auf. Mehr oder weniger per Zufall entdeckte Amazon, dass sich diese Serverkapazitäten auch extern vermieten und verkaufen ließen, und baute dieses Geschäftsfeld schrittweise, konsequent und mit großem Erfolg aus: Heute erzielt Amazon mit Cloud-Computing-Diensten pro Jahr 5 Milliarden US-Dollar Umsatz!
Fazit: Lieber den Spatz in der Hand…
Zugegeben: Die vorgeschlagene Strategie der kleinen Schritte ist nicht sonderlich spektakulär. Doch bevor sie der Magie der radikalen Innovation à la Silicon Valley erliegen, lohnt es sich, sorgfältig zu überlegen, ob Sie aus Ihrem bestehenden Geschäft, Ihren bestehenden Kuden und/oder an seinen Rändern noch mehr herausholen können. Häufig liegen ungenutzte Geschäftschancen überraschend nahe – und erweisen sich bisweilen als sehr lukrativ.
Quellen und Literatur
Christensen, Clayton M.: The Innovator‘s Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. München 2013 (1. Aufl. engl. 1997).
Clasen, Nicolas: Disruption or no disruption. Eine Frage des Überlebens? In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 03/2016, S. 5–9.
Faschingbauer, Michael: Effectuation. Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln. Stuttgart 2013 (1. Aufl. 2009).
Kim, W. Chan/Mauborgne, Renée: Blue Ocean Strategy. How to Create Uncontested Market Space and Make the Competition Irrelevant. Expanded Version 2015 (1. Aufl. 2005).
Lewis, Alan/McKone, Dan: Edge Strategy. A New Mindset for Profitable Growth. Harvard Business Review Press 2016.
„Squeezing the tube“, in: The Economist, July 2nd 2016, S. 62.
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